Raus aus Tiktok und Youtube, rein ins Leben! Warum #Erlebnispädagogik gerade jetzt so wichtig wäre
- »Es ist die Aufgabe der Erlebnispädagogik, dem Leben das Geheimnis, das in der Moderne zu verschwinden droht, wieder zurückzugeben«, Kurt Hahn, Politiker und Pädagoge.
Johannes steht am Abgrund. Im wahrsten Sinne des Wortes. Umringt von einigen seiner Mitschüler steht der 12 Jährige oberhalb eines Felsens und schaut in die Tiefe – da soll er runter. Es kostet Überwindung. Zwei weitere Klassenkameraden, die, das Sicherheitsseil fest in ihren Händen haltend am Fuße des Kletterfelsens stehen, ermutigen Johannes der sich nach nochmaligem tiefen Durchatmen nun an den Abstieg wagt.
Die Gruppe #Schüler ist mit ihrer Klasse und einem Lehrer für eine Woche im Haus »Adlerhorst«. Es ist die Zentrale von #Outward #Bound Germany, einer Institution, die den Problemen und Themen der Gegenwart von Jugendlichen seit inzwischen 70 Jahren erfolgreich entgegentritt.
Gründer von Outward Bound war der seinerzeit ins englische Wales emigrierte deutsch-jüdische Pädagoge Kurt Hahn, Wegbereiter der Erlebnispädagogik und Mitbegründer der legendären Internatsschule Salem. Seine pädagogischen Ideen und Konzepte bestimmen die Arbeit des Vereins bis heute und sind aktueller denn je.
»Die Pädagogik soll die Hindernisse nicht beseitigen, sondern nur überwindlich machen«, Kurt Hahn, Politiker und Pädagoge.
Den Namen »Outward Bound" hatten 1941 Hahn und der Geschäftsmann Laurence Holt ihrer ersten, 1941 in Wales gegründeten Kurzschule gegeben. Dieser bedeutet im Deutschen: "Ein fertig beladenes, zum Auslaufen bereites Schiff.« Der Begriff – der Seefahrt entliehen – wurde bewusst und klug gewählt, das er auf geniale Weise L. Holts´ Verbundenheit zur Seefahrt sowie in wunderbarer assoziativer Weise die Vorstellung und Idee der beiden präsentiert: Die Erlebnispädagogik soll jungen Menschen das Rüstzeug fürs Leben mit auf den Weg geben, dass da draußen auf sie wartet: Sorgfalt, Verantwortungsbereitschaft, Mut zur Initiative, Durchhaltevermögen und Anteilnahme.
Schon seit vielen Jahren lässt sich eine besorgniserregende Entwicklung bei den jungen Menschen in unserem Land feststellen: Der Rückgang von elementaren menschlichen Schlüsselqualifikationen, mangelnde Sozialkompetenzen und die Vereinsamung nehmen deutlich zu. Die Coronakrise der letzten 2 Jahren hat dies nochmals verschärft.
Ungezügelter Medienkonsum, wachsender Leistungsdruck von Eltern und Gesellschaft, Stress in Schulen, Einzelkind und Patchwork Faktor – oft gepaart mit Helikoptering – und weitere Herausforderungen wie zum Beispiel Integrationsthemen lassen viele Kinder und Jugendliche schon lange an die Überforderungsgrenze stoßen. Dazu kommen Bewegungsmangel und Vereinsflucht. Die Zeit für persönliche Entwicklung und Reifung kommt dabei erheblich zu kurz. Alarmierende Zahlen hierzu liegen schon lange vor. Die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die psychologische Hilfe in Anspruch nehmen, ist seit Jahren stetig gestiegen. Das #Ärzteblatt berichtete im Juni 2021: »Innerhalb von 10 Jahren hat sich die Zahl der Depressionen bei Minderjährigen fast verdoppelt. Auch Anpassungsstörungen, Burnout, Angst- und Essstörungen nahmen zwischen 2009 und 2019 deutlich zu. Die Pandemie hat diesen Trend verstärkt. Bundesweit wiesen die Zahlen auf einen Anstieg von mehr als 20 Prozent aller psychischen Erkrankungen hin.« Wörter wie Bildungsmisere und Sinnkrise der Schulen sind allgegenwärtig.
Umgekehrt ist die Überforderung von Lehrer:innen angesichts der Entwicklung der Schüler:innen und der Rahmenbedingungen im Bildungswesen mittlerweile schon sprichwörtlich. Auch hier hat Corona gewissermaßen einen vorläufigen Endpunkt gesetzt. Wer aus der Perspektive von Pädagogen mit jungen Leuten zu tun hat versucht oft engagiert über eigene Grenzen hinauszugehen oder hat längst resigniert. Themen wir Umgangston, Respekt, Resilienz, Einfluss der Medien werden hier oft schon mit dem Lächeln des Zynikers bedacht. Und nicht nur an so genannten »Problemschulen« am unteren Bildungsrand, sondern quer durch alle Bildungsebenen. Trotz einer Vielfalt an Chancen, die sich durch ein weiter gefächertes Bildungssystem in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat, ist keine Zeit für Wesentliches.
Umso wichtiger sind Institutionen wie Outward Bound. Sie sind es die als Partner von Schulen und Hochschulen, Unternehmen und soziale Einrichtungen mit ihrem erlebnispädagogischen Konzept junge Menschen in ihrer persönlichen Entwicklung durch Erlebnisse in und mit der Natur unterstützen.
Und so erscheint das Haus »Adlerhorst« auf den ersten Blick wie eine Mischung aus Hotel und Jugendherberge, so gesehen sehr passend in der touristisch aktiven Region der Ammergauer Alpen. Bei einem Rundgang durch das Haus merkt man jedoch schnell, dass hier ein ganz besonderer Wind weht und den Jugendlichen weit mehr als reine actionreiche Erlebnisimpulse geboten werden. Wer hier an Angebote wie Paragliding, Wildwasserrafting und Gleitschirmfliegen denkt liegt falsch.
»Wir haben zum Ziel, den einzelnen Jugendlichen in seiner Selbsteinschätzung, seiner Sozialkompetenz und seiner Mitverantwortung für Gemeinschaft und Natur zu fördern«, Outward Bound Germany.
Am Beispiel der siebten Gymnasialklasse aus Rheinlandpfalz wird sichtbar, worum es hier geht. Eine Klasse, wie sie von der Schule nebenan sein könnte - unterschiedlichste Charaktere, laut wie leise, mehr und weniger dynamisch, neugierig und nihilistisch. Alles dabei.
Morgens um 9:00 Uhr treffen sie sich vor dem Haus und bereiten sich auf den Aufbruch vor. Während die einen schon das sichere Anlegen der Gurte vor dem Haus üben, machen andere erste Spiele und ein Grüppchen putzt seine Bergstiefel und Rucksäcke - Materialpflege gehört zum Tagesplan auch dazu.
Der Klasse werden heute von den Trainer:innen Aufgaben zum Thema bewusstes Erleben, Vertrauen, Kommunikation und Teambuilding gestellt, die sie in enger Zusammenarbeit bewältigen müssen. Mal zu zweit, dann als ganzer Klassenverbund. So führt zum Beispiel auf einer Almwiese ein Mitschüler den anderen mit verbunden Augen durch das unwegsame Gelände. Die nächste Herausforderung ist kniffliger und kann nur gelingen, wenn sich jeder Einzelne beteiligt, die Schüler:innen sich austauschen und zusammenarbeiten: Ein Ball soll mittels halbierter Rohrsegmente bergab zu einem Zielpunkt transportiert werden. Der Weg ist viermal länger als die Gesamtlänge aller aneinander gelegten Röhren und die Gymnasiasten müssen immer wieder ihre Rohrabschnitte neu anlegen. Die Aufgaben sind ein wunderbares Warmup für das Klettertraining am Nachmittag.
Die eigentliche Arbeit der Moderation beginnt vor Ort in der Nachbesprechung, wo das Erlebte ausgetauscht wird. Im Sitzkreis werden die Eindrücke besprochen, Teilnehmer zu Wortmeldungen motiviert. Dabei wird kein pädagogischer Zeigefinger erhoben. Hier lernen #Kinder die in den Gruppen vorhandenen Konflikte selbst zu lösen. Sich selbst zu stellen, sich einzubringen. Oder auch sich zurückzunehmen und zu verstehen. Dosieren. Teil sein. Sich persönlich entwickeln.
Um Resilienz zu stärken, braucht es Geduld. Und diese haben die Trainer. Es ist faszinierend zu erleben, wieviel Zurückhaltung allein beim Zuschauen und Nichteingreifen geübt werden muss. So entsteht die Dynamik nicht durch die Trainer, sondern durch die Jugendlichen selbst. Jede Frage und Antwort kommen aus der eigenen Mitte der Gruppe. Und das macht vieles sichtbar für die Teilnehmenden! Eigenes Verhalten, fremdes Verhalten, Abgrenzung, Gemeinsamkeit. Gruppe. Miteinander und voneinander lernen - so wie es konzeptionell von Kurt Hahn entwickelt wurde. Scheinbar einfach und doch genial umgesetzt.
»Wir vermögen mehr, als wir glauben. Wenn wir das erleben, werden wir uns nicht mehr mit weniger zufrieden geben«, Kurt Hahn, Politiker und Pädagoge.
Von der Almwiese geht es über einen Wanderweg zur nächsten Station: Klettern am Fels. Bei allen Aktivitäten steht Sicherheit immer ganz vorne. Fast die gesamte Ausrüstung, die die Teilnehmer:innen für die Tage bei Outward Bound brauchen, bekommen sie hier. Vom Helm über Sicherungsgurte, bis hin zum Rucksack und Bergstiefeln hält man hier alles bereit. Keiner ist gezwungen sich für die Zeit im Adlerhorst eine Ausrüstung zulegen zu müssen. Das ist Outward Bound wichtig und setzt auch an dieser Stelle Kurt Hahns Konzept fort: Junge #Menschen aus allen sozialen Schichten soll es ermöglicht werden dabei zu sein und miteinander und voneinander zu lernen.
Am Fels geht es endlich zum Klettern. Allein die Einführung in die Sicherungstechnik ist für alle spannend! In ersten Gehversuchen wird dann auf Tuchfühlung mit dem Fels gegangen. Es werden Spalten und Griffe gesucht, es gibt Tipps und Hinweise. Jeder kommt dran. Jeder lernt vom anderen. Jeder erlebt eigene Grenzen. Die Erlebnispädagogik wird hier lebendig. Transponiert in unsere Zeit, in den Kontext der Teilnehmer.
Dabei zeigt unser Tag nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Repertoire der Angebote. Man kann sich erst jetzt gut vorstellen, wie Jugendliche eine Bergtour mit Hüttenübernachtung selbst planen und durchführen und die Trainer nur eingreifen, wenn Zeitlimits stark überschritten werden oder wenn etwas wirklich gefährlich wird. Jetzt wird klar, warum ein Projekt wie ein Floßbau so anspruchsvoll sein kann, welchen Reiz es hat in der Dunkelheit zu wandern – und wie nachhaltig diese Erfahrungen wirken.
Im Gespräch mit dem Klassenlehrer erfahren wir, warum er hier bereits zum fünften Mal Schulklassen begleitet und er diese Aufgabe in der Schule gerne übernimmt: Er schwärmt von den Samen, die hier gelegt werden, und die sich, wieder zu Hause im Schulalltag weiterentwickeln. Sie entfalten in der Praxis ihre Wirkung nach und nach. Er würde sich mehr Möglichkeiten in dieser #Qualität wünschen, sei aber sehr dankbar, dass seine Schule dieses Angebot nutzen könne.
Johannes jedenfalls ist nach seinem Tag am Fels restlos begeistert: »Es war einfach nur geil. Ich hätte nie gedacht, daß ich das schaffe, da ich sonst Höhe nicht so toll finde«. Sein Blick sagt mehr als tausend Worte. Johannes hat profitiert. Und mit ihm seine ganze Klasse. In diesem Sinne: Leinen los, Outward Bound.