Dennis Riehle, Kommentar, Ukraine Krieg, das Ende für die Friedensbewegung?
Kaum jemand konnte sich vorstellen, dass im 21. Jahrhundert in Europa der Krieg zurückkehren würde. Dass sich auch die Friedensbewegung getäuscht hat, als es um die Frage der Einschätzung der #Invasion Russlands in die #Ukraine ging, ist nur allzu menschlich. Viel eher habe ich Respekt vor ihrem Eingeständnis: Mit einem derart entfesselten und von jeder Humanität losgelösten Angriff durch Machthaber Putin konnten die meisten außenstehenden Beobachter nicht rechnen. Und selbstredend war es nur allzu richtig, auch bis zum Schluss auf Diplomatie zu setzen.
Und natürlich stelle auch ich mir bei meiner zunächst pazifistischen Grundhaltung viele Fragen an diejenigen, die gerade Deutschland in diesen Tagen vorwerfen, zu zurückhaltend zu sein: Wer hat diesen völkerrechtswidrigen Angriff gestartet? Wer hat sich über Monate für eine dialogische Lösung im Streit bemüht? Glauben wir tatsächlich, dass sich der russische Machthaber von deutscher Geschichte beeindrucken ließe und an den Verhandlungstisch zurückkehrt, weil sich Olaf Scholz dafür entscheidet, die Ukraine nicht mit weiterem Material zu beliefern? Von wem ging die schlussendliche Aggression aus? Welche Naivität reitet uns, ernsthaft anzunehmen, dass Putins Armee die Segel streicht, wenn wir aus duckmäuserischer Furcht vor dem sich aufbäumenden Moskau die eigene Abwehr stoppen und Selenskjis Truppen und das ukrainische Volk mit Helmen und Panzerfäusten im Kampf gegen einen nicht zurückweichenden Einmarsch alleinlassen? Wird sich der #Kreml Chef zum Bundeskanzler dazugesellen, wenn er von ihm zur gemeinsamen Friedenspfeife auf der Isomatte eingeladen wird?
Haben wir aus den vergangenen Wochen überhaupt etwas dazugelernt oder wollen wir tatsächlich behaupten, Russlands Plan nach einer neuen Ordnung in Europa wird über Bord geworfen, wenn wir Moskaus Schergen flehentlich darum bitten, Schwerter zu Pflugscharen zu machen? Denken wir wirklich, es ist angesichts der Brutalität und der Entschlossenheit des russischen Überfallkommandos eine Alternative, jetzt noch auf Abrüstung zu setzen und darauf zu hoffen, dass sich Putin durch eine solche faktische Kapitulation zugunsten seiner Ziele unserer Sicherheit gnädiglich erbarmen wird und seinen Feldzug zur Rückeroberung der Sowjetunion beendet? Haben wir denn etwas gewonnen, wenn wir unsere Werte, Ethik und Moral hochhalten, damit aber gleichzeitig einem Diktatoren Vorschub leisten, welcher sich weder um Völkerrecht, noch Menschlichkeit schert?
Es ist eine verblüffende Gutgläubigkeit, nach dem 24. Februar 2022 dem russischen Präsidenten noch in irgendeiner Art und Weise zu vertrauen. Dass der Kreml dem Westen derart offen ins Gesicht lügt, ist eine bittere Erkenntnis, die wir aber nicht erahnen konnten. Sicher vermochten Insider den steigenden Realitätsverlust des Despoten in Moskau und seine Unberechenbarkeit zu vermuten. Schlussendlich ist es aber Aufgabe einer pazifistischen Gesellschaft und Politik, bis zuletzt für eine gewaltlose Lösung zu werben. Gutgläubigkeit und Naivität kann man insofern uns allen vorhalten, die wir an Ethik und Moral festgehalten haben und an völkerrechtliche wie zwischenstaatliche Vereinbarungen und Selbstverständlichkeiten nach dem Kalten Krieg glaubten. Nicht nur für die Staatenlenker des Westens ist es eine zutiefst bedrückende Einsicht, dass wieder einmal ein Anführer in der Welt allen Konsens gebrochen und zivilisatorische Grundsätze über Bord geworfen hat.
Bundeskanzler Scholz spricht von einer Zeitenwende – und damit verbunden ist auch ein Umdenken. Alle, die sich für Verständigung eingesetzt haben, müssen heute debattieren, ob sich die Hoffnung auf ein friedliches Miteinander in Luft aufgelöst hat und die Vision von einer Versöhnung unter den Menschen auf den Boden der Tatsachen zurückgefallen ist. Kritisch wird zu diskutieren sein, inwieweit Zuversicht durch die Realität eingeholt wurde. Hilflosigkeit drücken aber auch Versuche, weiter auf Frieden zu bauen, aber keinesfalls aus. Viel eher hinterfragen sie, inwieweit die Arbeit für den Pazifismus künftig von mehr Pragmatismus geprägt sein muss.
Es ist allerdings nicht vordergründig der Auftrag der Zivilgesellschaft, politische Antworten zu geben. Stattdessen ist es nur allzu konsequent, auch weiterhin an Utopien festzuhalten, die Kompass für alle Friedenswilligen sein müssen und nicht nur auf eine Zeit nach Putin blicken, sondern auf die Überwindung von Krieg und Gewalt durch das Miteinander aller Menschen des bestens Willens vertrauen. Im Augenblick ist es eine rationale, gleichsam für jeden Pazifisten vollkommen unbefriedigende Feststellung, dass wir angesichts der neuerlichen Offenbarung eines menschlichen Tyrannen nur mit reaktionären Reflexen handeln können. Da ist es eine allzu verständliche Panikreaktion, aus dem eigenen Sicherheitsbedürfnis heraus nach mehr Verteidigung zu schreien.
Die Herausforderung für die Friedensorganisationen wird es sein, diese Maschinerie der Aufrüstung mit einem klaren Bekenntnis zu den eigenen Idealen zu durchbrechen. Wer, wenn nicht sie, können und müssen auch im Angesicht von Leid und Pein aus Überzeugung gegen die Barbarei ankämpfen. Protest und Solidarität sind keine leeren Worthülsen, sondern haben in der Geschichte bereits Waffen zum Schweigen gebracht. Standhaftigkeit statt Verzweiflung, Mut zum weiteren Gespräch und Gewissheit um das Unbesiegbare des Guten: Derartige Zeichen und Signale erwarte ich von uns allen!
Und das trotz aller Enttäuschung und der Verzweiflung angesichts Gottes offenbarer Untätigkeit, die uns letztlich zu Zweifeln führen muss. Schließlich kommt wieder die »Warum« Frage auf – und sie lässt uns mit Kopfschütteln zurück. Doch schon Zofia Jasnota formulierte in seinem Lied »Unfriede herrscht auf der Erde« (EG 663, Evangelischer Presseverband für Baden, 1. Auflage, 1995) von 1977, dass »Gott selbst es sein wird«, der der Welt Frieden schenkt. Dabei handelt es sich aber eben nicht um diesen menschlichen Wunsch nach Gewaltverzicht und dem Niederlegen der Waffen, die wir selbst erst in die Welt gebracht haben. Bereits im Rahmen der Schöpfungsgeschichte wird klar, wonach Gott die Eigenverantwortung und Freiheit seiner Ebenbilder als das wohl höchste Gut an uns irdische Wesen geschenkt hat.
Er befähigt uns zur Einsicht, dass wir alle Schönes und Schlechtes unterscheiden können und dazu in der Lage sind, das eigene Handeln zugunsten unserer Zivilisation nach diesen Maßstäben auszurichten. Und somit gehört letztlich auch der schwer zu fassende Umstand, dass es Menschen gibt, die ihre eigene Interpretation zu notwendigem Übel und verantwortungsvollem Vermeiden von Leid haben, zu dieser gottgegebenen Souveränität. Auch Putins wirre Vorstellungen müssen wir unter diesem Aspekt als eine völlige Zumutung hinnehmen, wenn wir uns gleichzeitig bewusstwerden: Gott ist kein Lückenfüller, der uns in glückseligen Zeiten selbstständig agieren lässt und den wir lediglich in Krisen zu Rate ziehen können. Wenn wir uns vollständig auf ihn einlassen, bedeutet das auch, mit menschgemachten Katastrophen umzugehen. Gleichsam wäre es falsch, ihm eine vollständige Abwendung von der Welt vorzuwerfen.
Denn es ist seine eigene Art und Weise des Beistands, den er uns auch dann zuteilwerden lässt, wenn wir seine Abwesenheit beklagen – weil wir seine Form des Friedens nicht verstehen und erkennen können. Solidarität und Humanität sind seine Möglichkeiten des Ausdrucks von Versöhnung. Und sie merken wir auch im Ukraine Krieg 2022 erneut: Es sind diese unfassbaren Gesten der Mitmenschlichkeit, von Trost und der ausgestreckten Hand, die weite Teile der in- und ausländischen Zivilbevölkerung den Opfern dieses unerträglichen Konfliktes zukommen lassen. Die Suppe, die sie für die Flüchtenden kochen. Matratzen und Tücher zum Schlafen in den eigenen vier Wänden für die Schutzsuchenden von nebenan. Transparente und Banner bei den unzähligen Demonstrationen und Protesten. All das ist Gottes Friede. Und es ist kein Widerspruch, im Kopf Realist zu sein, im Herzen aber den Pazifismus zu tragen …
Zum Autor
Dennis Riehle (geboren 1985 in Konstanz am Bodensee) ist gelernter Prädikant, Laienprediger, und Journalist, in Philosophie zertifiziert und in Seelsorge weitergebildet.