Loredana Nemes, Passion Portrait, Kunstverein Konstanz
Das Portrait ist das zweitälteste Genre der Fotografie. Das Wesen eines Menschen zu erfassen, fordert Fotografen seit der Erfindung des Mediums heraus. Doch wieviel ein Bild über einen Menschen aussagen kann, was zwischen Oberfläche und Wesenskern sichtbar wird, ist eine viel diskutierte Frage. Auch Loredana Nemes ist auf der Suche nach dem möglichen Erkenntnisgewinn eines Bildnisses. Im Kunstverein Konstanz präsentiert sie vier ihrer bereits vielfach ausgestellten Werkgruppen. In konzeptueller Herangehensweise hinterfragt sie die Möglichkeiten eines Portraits und schafft eigenwillige, komplexe, im Gedächtnis verhaftende Kompositionen.
»Über Liebe« ist eine frühe Serie der Künstlerin, die zwischen 2006 und 2008 entstand. In einem imposanten Fries aus kleinformatigen Bildern hat Nemes sich als Braut auf den Straßen verschiedener europäischer und amerikanischer Großstädte inszeniert. Neben ihr steht jeweils ein wildfremder Mann als möglicher Bräutigam, der sie berührt oder umarmt und den sie nach der Liebe zu (s)einer Frau befragt, um das ewige Mysterium, warum Liebe kommt, bleibt oder vergeht, tiefer zu ergründen. Die Begegnungen hat Nemes mit Selbstauslöser fotografiert und die teils sehr intimen Antworten der Männer aufgezeichnet und transkribiert.
Die Serie »beyond« zeigt Rückzugsorte für Männer aus arabischen und türkischen Kulturkreisen. Was in den Lokalen hinter milchigen Fensterscheiben vor sich geht, bleibt Außenstehenden verborgen und spiegelt unsere Kenntnis über diese Menschen, die möglichweise sogar nebenan wohnen. Nemes, die als Mädchen durch ihre Flucht nach Deutschland Fremdheit durchlebte, nähert sich ihrem Sujet mit Bedacht. Zunächst fotografiert sie die Räumlichkeiten von außen. Im zweiten Schritt bittet sie Gäste, sich für ein Portrait dicht hinter einem Caféhausfenster zu positionieren. Dabei legt sie den Fokus nicht auf die Männer, sondern auf die Scheibe und schafft äußerst konkrete wie höchst vage Portraits, die zudem die Grenzen des Genres aufzeigen.
2012 widmet sich Nemes mit »Blütezeit« der für Aufbruch stehenden Jugend. Freundescliquen, Geschwister und Erstverliebte, die ihr in öffentlichen Gärten und Parks begegnen, bittet sie um ein Gruppenportrait und greift dafür zu einem überraschenden Format. Statt einer herkömmlichen Gruppenaufnahme lichtet sie alle Jugendlichen einzeln ab und fügt die Portraits nachträglich als Diptychen oder mehrteilige Tableaus zu einem betörend schönen Bild zusammen. So steht jeder Junge und jedes Mädchen souverän im Zentrum des Bildes und ist zugleich verbunden mit der Gruppe. Die Trennungen und Wiederholungen in den aneinander gereihten Aufnahmen betonen Freundschaft und Zusammenhalt, aber auch Fragilität und Verletzbarkeit der adoleszenten Lebensphase. Umrahmt sind die Heranwachsenden von Bildern aufblühender Bäume, die sinnbildlich das Kraftvolle und Unverstellte des Jungseins unterstreichen.
In der jüngsten Portraitarbeit »Immergrün« erkundet Nemes die Beständigkeit der Liebe zwischen Männern und Frauen, die seit Jahrzehnten als Paar zusammenleben und schließt den Kreis zur Serie »Über Liebe«. Um die Zweisamkeit zu verbildlichen wählt Nemes das Verfahren der Doppelbelichtung, indem sie die Partner kurz nacheinander fotografiert. Nemes‘ sensibles Herantasten trennt das Paar in der ersten Belichtung und verwebt es wieder in der zweiten. Zusammen mit der ausgeklügelten Lichtregie entstehen außergewöhnlich anziehende Bilder, in denen Teile des Körpers sich scheinbar durchdringen und verschmelzen. Ihr einfühlsamer Blick gilt auch der Anmut der Hände, Beine und Zartheit der papierenen Haut der Älteren. Die Begegnungen mit den teils steinalten Menschen sind berührend und ihre Erzählungen inspirieren Nemes zu poetischen Versen, die neben Aufnahmen von immergrünen Pflanzen – ein Pendant zum Alter – die Portraits bereichern.
Nemes’ Fotografien sind Erzählungen von Liebe und Fremdheit und spiegeln ihr Interesse, dem Rätsel Mensch und sich selbst näher zu kommen. Seit Beginn ihres fotografischen Schaffens experimentiert sie mit ungebräuchlichen Ausdrucksweisen und forscht nach neuem fotografischem Terrain. Ihre Technik hingegen ist traditionell und aufwändig. Sie arbeitet viel mit Analogfilm und großer Kamera, doch dies ermöglicht ihr präzises Gestalten, sorgfältiges Beobachten und genügend Zeit, sich auf die Protagonisten einzulassen, um Gefühle und Empfindungen einzufangen, die dem gewöhnlichen Blick verborgen bleiben.
Nemes ist 1972 in Sibiu in Rumänien geboren. Mit den Eltern floh sie 1986 nach Aachen. Dort studierte sie Deutsche Literatur und Mathematik, bevor sie sich autodidaktisch der Fotografie zuwandte. Seit 2001 lebt sie als Künstlerin in Berlin. Neben der Portraitarbeit ist die Welt der Bäume, ihr Aufblühen, Wachsen und Vergehen, ein weiteres wichtiges Sujet.
19. Februar bis 17. April 2022, Kunstverein Konstanz, www.kunstverein-konstanz.de