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Kunst und Kultur, Literatur

»Orte des Widerstehens«, Aktionsräume gegen den Nationalsozialismus im Südwesten 1933 bis 1945, mit Rezension von Brigitte und Gerhard Brändle

Bei der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (»LpB«) ist das 238 Seiten starke, neue Buch »Orte des Widerstehens« erschienen.

Von: , , Lesedauer 6 Minuten, 47 Sekunden, DOI:10.DE170236410/GÜTSEL.35471, 119.088 Views

»Orte des Widerstehens«, Aktionsräume gegen den Nationalsozialismus im Südwesten 1933 bis 1945, mit Rezension von Brigitte und Gerhard Brändle

Cover: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, Informationen zu Creative Commons (CC) Lizenzen, für Pressemeldungen ist der Herausgeber verantwortlich, die Quelle ist der Herausgeber

»Orte des Widerstehens«, Aktionsräume gegen den Nationalsozialismus im Südwesten 1933 bis 1945, mit Rezension von Brigitte und Gerhard Brändle

Stuttgart, 10. Januar 2022

Bei der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (»LpB«) ist das 238 Seiten starke, neue Buch »Orte des Widerstehens« erschienen. Darin betritt die Autorin, Angela Borgstedt von der Universität Mannheim, historiographisches Neuland in der Erforschung des Widerstands gegen das #NS Regime im heutigen Baden-Württemberg.

Neun Kapitel zeigen, wie geographische und soziale Räume widerständiges Handeln ermöglicht und geprägt haben: im öffentlichen Raum, in der privaten Wohnung, im halböffentlichen Wirtshaus, im kirchlichen Raum, am Arbeitsplatz, sogar in Anstalten, Gefängnissen und Lagern – und nicht zuletzt an den Landesgrenzen, die gerade für den Südwesten mit seiner Nachbarschaft zu Österreich, Frankreich und der Schweiz besondere Möglichkeiten des Widerstehens boten. Das Ergebnis ist eine Neuvermessung des Widerstands gegen das NS-Regime im deutschen Südwesten. Diese Neuvermessung beeindruckt durch einzelne Tiefenbohrungen und verdeutlicht zugleich die Vielfalt der Akteure und ihres Handelns. Im Mittelpunkt stehen »ganz gewöhnliche Menschen«, denen es nicht um die »große Politik«, sondern um Selbstbehauptung, Nonkonformität und Verweigerung ging, kurz: um Formen des Widerstands im Alltag.

Die Verfasserin, Prof. Dr. Angela Borgstedt, ist Geschäftsführerin der »Forschungsstelle Widerstand gegen den #Nationalsozialismus im deutschen Südwesten« am Historischen Institut der Universität Mannheim. Sie hat insbesondere zu den »Stillen Helfern« für verfolgte #Juden und zu Handlungsspielräumen in der NS Diktatur geforscht, und ebenso zur Entnazifizierung und zur Geschichte der Anwaltschaft publiziert.

Das Buch erscheint in der LpB Reihe »Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs« (Band 54) und kann im Webshop der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg zum Preis von 6,50 Euro zuzüglich Versand bestellt werden.

 

Rezension, »Vertane Chancen«, Angela Borgstedt,,»Orte des Widerstehens«, Stuttgart, 2022

Die von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg herausgegebene Veröffentlichung von Angela Borgstedt »Orte des Widerstehens«, Stuttgart, 2022 ist angekündigt als »Neuvermessung des Widerstandes gegen das NS-Regime im deutschen Südwesten«. Mit dem Buch betrete die Autorin »historiographisches Neuland« (Klappentext), aber wirklich neu ist das Vorhaben nicht, die Orte und Räume zu skizzieren, an oder in denen Menschen sich widerständig verhalten haben. Antifaschistische Stadtrundgänge sind längst Tradition in der Erinnerungsarbeit vor Ort: Wo im öffentlichen Raum traten NS GegnerI vor allem vor 1933 auf, wo haben die widerständigen Menschen gewohnt, wo haben sie sich konspirativ getroffen, welche kirchlichen Räume boten Schutz, in welcher Firma gab es Widerstandszellen, wo und wie versuchten Gefangene oder ZwangsarbeiterInnen, gemeinsam zu überleben, dem Arbeitszwang zu entfliehen beziehungsweise sich zu befreien und wo waren die Stationen der Fluchtwege, aus Nazi-Deutschland zu entkommen?

Angesichts der Vielzahl der auch gedruckt vorliegenden Stadtrundgänge zu Orten des Widerstandes in Gemeinden in Bad.-Württ. erschließt sich nicht, was jetzt eine »Neuvermessung des Widerstandes« (Klappentext), eine »innovative Topografie« (Seite 7) sein soll. Dass die »Aktionsräume« des Widerstandes (Seite 214) den lokalen Gegebenheiten angepasst sind, ist weder ein »neuartiger methodischer Zugriff« (Seite 9) noch neue wissenschaftliche Erkenntnis. So ist zum Beispiel schon längst verortet, dass widerständige Menschen sich entlang des Rheins oder anderen Flüssen an anderen Stellen getroffen haben als die in Orten ohne Eisenbahnanschluss oder solchen, die von Wald umgeben waren. Die Techniken des Transports von Anti-Nazi-Schriften im »Reich« und ins »Reich« sind – je nach geografischer Gegebenheit, hier »Aktionsraum« genannt, weitgehend dokumentiert.

Nicht überall sind die widerständigen Menschen bekannt, sind ihre Taten beziehungsweise absichtlichen Unterlassungen dokumentiert. Aus dem Raum Pforzheim sind in verschiedenen Kapiteln zu unterschiedlichen Schwerpunkten 15 Personen zum Teil mehrfach genannt. Leider erfahren Interessierte trotz der Behauptung, das Buch zeige »bewegende Biographien« (Seite 10), nur wenig über deren Lebenswege beziehungsweise Schicksale, obwohl für zwölf der Genannten in der Datenbank »Widerstand im Raum Pforzheim 1933 bis 1945External Link«Â zum Teil ausführliche Biografien mit Bildern vorliegen: 

Der mehrfach genannte Pfarrer Otto Riehm aus Ispringen opponierte nicht nur mehrfach gegen das »Beflaggungsgebot« (Seite 32 und 97), seine Frau Gertrud – sie wird nicht genannt – und er waren auch eine der Rettungsstationen für das jüdische Ehepaar Ines und Max Krakauer, was im entsprechenden Kapitel fehlt (Seite 197 und Folgende) – erstaunlich für eine Forschende zum Thema »Stille Helfer« (Klappentext). Auch bei Arthur Ditschkowski (Seite 137) und Wilhelm Niederberger (Seite 62), beide Zeugen Jehovas, sind die ebenfalls beteiligten Ehefrauen Emma und Frieda nicht erwähnt sowie auch nicht ihre Verfolgungs-Schicksale. 

Die Nachbarn der zwei widerständigen kommunistischen Frauen Karoline Schnell und Valentine Stickel, Albert Ebel und Fritz Burkhardt (Seite 58), sammeln in ihrem Viertel Spenden für einen zur Flucht gezwungenen Genossen, mehr an »Tiefenbohrung« (Klappentext) ist nicht. Allenfalls aus dem Studium der in Fußnote 33 auf Seite 58 angeführten Quelle könnte ersichtlich werden, dass alle Genannten 1935 vor das Sondergericht Mannheim gezerrt wurden. Dort steht allerdings nicht, dass die Nazis Valentine Stickel ins Frauen-Konzentrationslager Gotteszell sperrten, dass Albert Ebel im Konzentrationslager Sachsenhausen angeblich an »Blutkreislaufschwäche« starb und dass Fritz Burkhardt, in das Bewährungsbataillon 999 gepresst und 1944 als »kriegsbeschädigt« entlassen, den Bombenangriff auf Pforzheim am 23. Februar 1945 nicht überlebte.

Der zur Flucht ins Ausland Gezwungene hat zwar einen Namen, was Adolf Baier (Seite 58) jedoch nach 1935 gemacht hat, fehlt schlicht. Es geht ihm nicht anders als den als Anti-Nazi-Schriftenherstellern und -schmugglern genannten Josef Arzner (Seite 181), Emil Baumann (Seite 56), Friedrich Birk (Seite 83 und 181), Leo Dallinger (Seite 62) und Ernst Votteler (Seite 60): Alle haben ab 1936 in Spanien gegen den von den Nazis unterstützten Militärputschisten Franco und für den Erhalt der Republik gekämpft, aber kein Wort davon – doch, einmal, bei Friedrich Birk gibt eine Fußnote (sic !) einen Hinweis auf »Internationale Brigaden« (Seite 83). Die Lebenswege der sechs Spanienfreiwilligen – von 118 allein aus Baden – sind im Internet und in der Dokumentation »Adelante Libertad« zu finden.

Solche Auslassungen sind kein Ausweis für akribische Archiv-Recherchen und schon gar keine Würdigung der Genannten, wie es im Vorwort (Seite 7) formuliert ist, sie werden den Menschen, um die es geht, nicht gerecht. Nur einer Fußnote (sic!) ist zu entnehmen, dass Wilhelm Köhler (Seite 97 und 99) vor ein Sondergericht gezerrt wurde; unerwähnt ist: Er überlebte das Gefängnis in Rottenburg am Neckar und das Konzentrationslager Dachau. Fritz Schnurmann (Seite 131) gab in seiner Praxis eben nicht nur eine regimekritische Schrift weiter, sondern floh, aus der Haft entlassen, nach Portugal und wurde in Lissabon zum Fluchthelfer – mit diesen leider fehlenden Informationen könnte er vielleicht zum »Vorbild« werden und »Mut machen«, heute Zivilcourage zu zeigen – so im Vorwort (Seite 10). Dass er als »Jude« Berufsverbot bekam, ist ausgeblendet, als ob jüdische Menschen sich nicht gegen die Nazis gewehrt hätten. 

Das Buch »eröffnet Horizonte«, so laut Vorwort: Die marginale Erwähnung von Fritz Schnurrmann lässt die Möglichkeiten aus, wirklich neue »Aktionsräume« hinter den von Baden-Württemberg aus sichtbaren Horizonten zu entdecken: mit Fritz Schnurmann in Portugal, mit den sechs schon genannten Spanienfreiwilligen eben jenseits der Pyrenäen und 1939 im Internierungslager Gurs, mit Josef Arzner und Ernst Votteler in der Résistance in Frankreich und mit Adolf Baier in Schweden bei Sabotageaktionen gegen Kriegstransporte der #Nazi #Wehrmacht.

»Kooperationsverweigerung und Kritik« gegen das beziehungsweise am »Euthanasie«-Mordprogramm der Nazis seien »rar«, genannt ist dann ein »wohl einmaliger Fall« (Seite 19). Eine Dokumentation auf der Homepage der Stadt Pforzheim berichtet von dem Protest des katholischen Geistlichen Kurt Habich im Kino während der Vorführung des NS Propaganda Filmes »Ich klage an«. Auch zum Teil erfolgreiche Versuche von Anstaltsleitern, Personal und AnwohnerInnen in beziehungsweise bei den Anstalten Herten, Illenau und Kork, Menschen vor dem mörderischen Zugriff der Nazis zu retten, sind dort nachzulesen.

Bedauerlich, dass Chancen vertan wurden, Menschen, die auf verschiedene Weise und in verschiedenen »Aktionsräumen« versuchten, dem #Nazi #Terror zu widerstehen und »dem Rad in die Speichen zu fallen« (Dietrich Bonhoeffer), durch »bewegende Biographien« (so postuliert im Vorwort) tatsächlich lebendig werden zu lassen – oder doch wenigstens Hinweise zu geben, wo die mutmachenden Menschen vorgestellt sind und meist auch ein Gesicht erhalten haben.

Brigitte und Gerhard Brändle, Karlsruhe, 25. Januar 2022              

Salenti

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