Lesetipps für Gütersloh: Markus Neuenschwander, »Die Gretchenfrage im 21. Jahrhundert«, Buch online bestellen, online kaufen
Was wissen wir? Woher kommen wir? Wohin wollen wir?
Der Gedankenbogen klingt einfach und nachvollziehbar: Wir Menschen sind auf uns selbst gestellt. Wenn wir die globalen Probleme lösen wollen, hilft uns niemand – kein Gott und keine Heilsbringerin. Wir sind allein auf unser Denken gestellt; das ist alles andere als eine zuverlässige Grundlage, denn unser Gehirn ist nichts als das Ergebnis eines langen Evolutionsprozesses. Mit unserem unzuverlässigen Denken lenken wir politisch das Weltgeschehen – nicht immer geschickt. Je besser wir unser biologisches Denken verstehen, desto besser gelingt uns die Gestaltung unserer Zukunft.
Warum sind wir Menschen so widersprüchlich? Weltweit haben gut 70 Prozent der Menschen hohes oder mittleres Vertrauen in die Wissenschaften; wenn sich Glaube und Wissenschaft widersprechen, ziehen aber weniger als 30 Prozent die Wissenschaft vor. Mehrheitlich wollen wir Menschen die Klimaerwärmung stoppen; wir wissen, was wir dazu tun müssten, tun es aber nicht. Eingebrockt hat uns solche Inkonsistenz unsere Evolution. Das Sachbuch »Die Gretchenfrage im 21. Jahrhundert« geht dem auf den Grund und zeigt den Ausweg.
Weshalb sollten wir im Zweifel entschieden der Wissenschaft und niemals einem Glauben (oder einer unbelegten Behauptung) vertrauen? Wie unterscheiden sich überhaupt Glauben und Wissen? Was macht Wissen aus? Weshalb sind Gott, Seele und Geist unserem Wissen schlicht nicht zugänglich? Wohltuend verzichtet das Buch weitgehend auf Fachausdrücke und erklärt die Hintergründe und Zusammenhänge in einer Sprache, welche die Lesenden auch ohne Vorkenntnisse auf Anhieb verstehen. Packende Beispiele und Begebenheiten nehmen die Lesenden mit auf eine Reise durch das menschliche Dasein und hinterlassen bleibende innere Bilder.
Im Zaubertheater erleben sie, warum ihre subjektive Wirklichkeit nie zuverlässig ist, warum sich dahinter immer eine andere reale Wirklichkeit verbergen kann. Sie erfahren auch, wie ihr Gehirn ihre Erinnerungen laufend neu verdrahtet, sodass sich diese als solche laufend verändern. Dann leitet Teil Eins (»Was wissen wir?«) zur Frage über, wie wir Menschen denn zu unserer zwar eindrücklichen, aber doch so unzuverlässigen Denkweise gekommen sind.
»Woher kommen wir?«, Teil Zwei des Buches zeichnet die Evolution von uns Menschen nach, basierend auf neuen DNA-Analysen. Zuvor erfahren die Lesenden, wie die Evolution überhaupt funktioniert, was es mit den Genen auf sich hat, dass das Leben möglicherweise gar nicht auf der Erde entstanden ist und wie globale Massensterben immer wieder zu neuen Impulsen für die Evolution geführt haben – kein Grund allerdings, ein neues Massensterben in Kauf zu nehmen. Der Evolutionsteil des Buches konzentriert sich dann auf die Denkweise von uns Menschen als Ergebnis eben unserer Entwicklungsgeschichte. Nur wenn wir die evolutionsbedingten Fallen und Verzerrungen unseres Denkens einigermaßen kennen – so die Botschaft des Buches – können wir sie auch zu einem gewissen Grad in Schach halten.
Wie das? Das Buch wagt sich an globale Herausforderungen wie Machtmissbrauch, weltweite #Migration, #Klimawandel und #Biodiversitätsverlust heran und macht teils überraschende Vorschläge. Diese leiten sich zwar nicht zwingend aus den vorangegangenen analytischen Teilen des Buches ab, aber sie erschließen sich für die Lesenden plausibel daraus: Möglichkeiten, wie wir Menschen auf die großen Krisen reagieren könnten. »Wohin wollen wir?« So lautet der Titel von Teil Drei des Buches. Was wir wollen, das müssen wir Menschen selbst herausfinden und selbst untereinander ausmachen – darauf verweist das Buch immer wieder. Am besten eben in Kenntnis unserer Denkfallen, die uns die Evolution »mitgegeben« hat. Am besten, indem wir Distanz zu uns selbst gewinnen; indem wir uns weder durch Fake-News noch durch unsere spontanen Gefühle verwirren lassen, sondern uns an Fakten halten und auf Wissen stützen, das wir mit anderen teilen können.
Das Buch schließt mit einem anschaulichen und aufrüttelnden Fallbeispiel: Mit dem Thema »#Schokolade«. Die globalen Verflechtungen rund um den Kakao illustrieren beispielhaft, was die vorangegangenen Kapitel dargelegt haben.
Trotz des Gesamtumfangs von mehr als 600 Seiten wird das Buch nie langweilig, im Gegenteil: Es gelingt dem Autor, die Leser mit der dichten Abfolge von Geschichten, Informationen und Gedanken über den gesamten Gedankenbogen hinweg bei der Stange halten. Bevor der Biologe und Raumplaner Markus Neuenschwander während mehr als zwei Jahren an der »Gretchenfrage« schrieb, hat er unter anderem als wissenschaftlicher Redaktor gearbeitet und anschließend fast zwanzig Jahren lang einen Lehrmittelverlag geführt. Texte zum Buch beigetragen haben auch der bekannte Freidenker Valentin Abgottspon, der Physiker Felix Austen, der für das Online-Magazin Perspective Daily arbeitet, sowie die Kakao-Spezialistin Jennifer Hagemann. Das Buch ist ansprechend gestaltet und unterstützend illustriert und liegt auch haptisch gut in der Hand – ein anregender Lesegenuss.
Agnostizismus
Im Buch ist viel von Agnostizismus die Rede – eines der wenigen verwendeten Fremdwörter (welche stets gleich erklärt werden); von der Erkenntnis also, dass wir über Gott oder eine höhere Existenz nichts wissen, weil wir nichts wissen können. Der Autor wünscht sich deshalb, dass alle Menschen sich nur noch als Agnostikerinnen oder Agnostiker verstehen würden: als atheistische oder christliche Agnostikerinnen, als muslimische oder buddhistische Agnostiker, als agnostische Menschen welcher Anschauung auch immer.
Denkverzerrungen
Im Buch ist auch viel von Denkverzerrungen die Rede: von Denkverkürzungen, die uns in der Evolution womöglich besser zu überleben halfen, die jedoch unseren heutigen Blick auf die Welt verzerren. Und zwar auf eine Weise, die uns daran hindert, unsere globalen Probleme auf möglichst vernünftige Weise zu lösen. Ein Beispiel ist unsere Selbstüberschätzung: Statt dass wir uns an belegten Fakten orientieren, vertrauen wir Menschen zu sehr unserer subjektiven Wahrnehmung und folgen zu sehr unserer »inneren Stimme«. Informationen halten wir nicht dann für glaubwürdig, wenn sie gut und für alle nachvollziehbar belegt sind, sondern wenn sie unser Gedankengebäude stützen und in unsere Gefühlswelt passen. Selbst wissenschaftlich fundierte Fakten blenden wir lieber aus, wenn sie in Konflikt mit unseren Gefühlen kommen. Und unser In-Group-Out-Group-Programm lässt uns andere Menschen übervorteilen oder gar ausgrenzen, nur weil sie rein zufällig anders aussehen oder zufällig außerhalb unserer Landesgrenzen geboren sind.
Handlungsschlüsse
Aus all den evolutionsbedingten Denkverzerrungen destilliert der Autor drei Handlungsschlüssel heraus, die uns Menschen helfen könnten, unsere Probleme rationaler und damit zielführender anzupacken.
Schlüssel Eins: Individuen können sich immer täuschen, also sollten wir uns nie abschließend auf Einzelmenschen verlassen; weder auf uns selbst noch auf andere.
Schlüssel Zwei: Die Alternative sind nicht etwa Gruppen oder gar Volksentscheide, denn auch Gruppen und große Gemeinschaften handeln und befinden nicht automatisch rationaler. Die Alternative finden wir auf einer anderen Ebene: bei wissenschaftlichen Befunden und evidenten, gut belegten Fakten. Natürlich gilt es immer, damit auch Mehrheiten zu gewinnen, denn ohne dies geht nichts.
Schlüssel Drei: Das Engagement von Individuen ist entscheidend (selbst wenn sie sich täuschen können), soweit sie sich bestmöglich auf Wissenschaft und Fakten abstützen und bereit sind, allfällige Gegenbefunde zu akzeptieren. Und – falls sie über Macht verfügen – diese teilen und von unabhängiger Seite kontrollieren lassen.
Klima-Altlast und Postwachstum
Das Buch geht auch auf die großen globalen Probleme ein, natürlich ohne diese systematisch oder gar umfassend abhandeln zu können. Beispiel Klima: Da die Menschheit bereits seit den 1990er-Jahren zu viele Treibhausgase in die Atmosphäre gepumpt hat, bezeichnet dies der Autor als gigantische Altlast, für welche – wie bei jeder Altlast – die Verursacher haften müssten. Zu 92 Prozent sei das – mit einem Bevölkerungsanteil von 18 Prozent – die »westliche« Welt. Diese sollte, fordert der Autor, finanziell vollumfänglich und ohne Wenn und Aber dafür gerade stehen. Dieser rationale Schritt würde die nötige Vertrauensbasis für die übrigen 82 Prozent der Weltgemeinschaft schaffen, endlich im Verbund mit dem »Westen« das Pariser Abkommen konsequent umzusetzen.
Wie befreien wir uns aus der Wachstumsfalle? Im Kapitel »Postwachstum« bestreitet der Autor, dass es einen Wachstumszwang gebe. Der größte scheinbare Zwang gehe von der demografischen Entwicklung aus, weil immer weniger Erwerbstätige immer mehr Menschen im Rentenalter unterhalten müssten. Um den eigenen Lebensstandard zu halten, müssten sie also die Gesamtwirtschaft am Wachsen halten. Doch selbst dieser scheinbare Zwang ließe sich, so der Autor, durch Neuorganisation des Alters lösen oder zumindest entscheidend entschärfen. Der Autor benennt die wichtigsten Eckpfeiler dazu.
Fallbeispiel Schokolade
Auf kurzweilige Weise erfahren die Lesenden, wie wir Menschen auf die Schokolade gekommen sind. Wenn wir in einen Schokoladenriegel beißen, machen wir uns aber kaum Gedanken darüber, welche Ausbeutung und Umweltzerstörung in diesem Riegel steckt. »Wohin wollen wir?« Als Fallbeispiel zum Teil Drei des Buches macht das Schlusskapitel erkennbar, wie erschütternd wenig freiwillige Vereinbarungen und gut gemeinte Labels bewirken, wie viel Kinderarbeit nach wie vor in so einem Riegel steckt und wie viel Regenwald dafür zerstört wird. Das Beispiel zeigt aber auch auf, wie wir Menschen faktenorientiert handeln könnten: Indem wir die Einführung von Agroforstsystemen unterstützen und strenge Lieferkettengesetze fordern würden.
Partitura Verlag, 640 Seiten, gebundene Ausgabe, 39 Euro