Gestern jährte sich der 80. Jahrestag des Beginns des Angriffskrieges des Dritten Deutschen Reichs auf die Sowjetunion mit der zynischen Bezeichnung »Feldzug Barbarossa«. Im Zuge des Generalplans Osts sollte die Sowjetunion, den wirtschaftspolitischen Zielen der Nationalsozialisten unterworfen werden. Parteikader und Juden sollten liquidiert werden, die Zivilbevölkerung sollte zu Sklavenarbeit zwangsrekrutiert werden.
Im Kreis Gütersloh bei Stukenbrock in der Senne fast direkt am Truppenübungsplatz, befindet sich das Strafgefangenenlager 326, dass nach Kriegsende zu einem Soldatenfriedhof wurde und in dem circa 76.000 sowjetische Kriegsgefangene in Massengräbern bestattet liegen. Auch aus anderen Ländern gibt es Opfer unter dem Sennesand. Ein von den befreiten Gefangengen selbsterrichteter Obelisk steht zwischen den Kiefern als Mahmal. Jedes Jahr am ersten Samstag im September, dem Antikriegstag, organisiert der Verein »Blumen für Stukenbrock« eine Gedenkveranstaltung. Zum heutigen Jahrestag gab es wichtige Reden und Kranzniederlegungen und neben dem Vertreter des Generalskonsuls Russlands aus Bonn, war auch der nordrhein-westfälische Landtagspräsident mit einem Kranz dabei. Eine sehr spannende Rede hielt Dr. Günter Bönig vom Forum Russische Kultur Gütersloh, die wir hier im ungekürzten Wortlaut dokumentieren:
Ansprache 22. Juni 2021 in Stukenbrock, Dr. Günter Bönig vom Forum Russische Kultur Gütersloh
Der Zweite Weltkrieg war die größte Menschheitskatastrophe der Neuzeit. Uns Kindern der Nachkriegszeit war das sehr gegenwärtig. Gefallene, Verschollene, Kriegsversehrte in der Familie, in der Nachbarschaft, waren uns bekannt. Auch die Opfer des Bombenkrieges, der Vertreibung waren in unserem Bewusstsein.
Dass es auch eine andere Seite gab, erfuhr man in den höheren Klassen der Sekundarschulen: 20, 30 Millionen Kriegsopfer in der Sowjetunion. Unvorstellbar, aber Realität? Im Kalten Krieg war die Sowjetunion weiterhin Feind. Gedanklich präsent war nur die Bedrohung. Erst 1995 wurde das wahre Ausmaß der Kriegsverbrechen im Weltkrieg durch die lange Zeit höchst umstrittene Wehrmacht-Ausstellung bekannt, die die Gräueltaten des Russlandfeldzuges erstmals in Deutschland umfassend dokumentierte. Es war ein Vernichtungskrieg gewesen. Das hat Bundespräsident Steinmeier in seiner Rede am Freitag noch einmal sehr klar festgestellt.
Inzwischen war 45 Jahre nach Kriegsende das Feinddenken des Kalten Krieges abgelöst worden durch einen Geist der Gemeinsamkeit, das Gefühl der gemeinsamen Bedrohung durch atomare Massenvernichtungswaffen, das Gefühl der gemeinsamen Bedrohung durch die Kernkraftkatastrophe von Tschernobyl. In Gütersloh setzte die Kinderhilfe Tschernobyl ein Zeichen. Die Sowjetunion gab mit Gorbatschow ein Weltreich auf für das Versprechen des Gemeinsamen Hauses Europa, der gemeinsamen Sicherheitsordnung in Europa, wie sie in der Charta von Paris 1990 formuliert worden war.
Und heute? Letzte Woche hat die NATO Russland zum potentiellen Feind erklärt, wie auch China. Russland sei der Störenfried in Europa, aggressiv, bar unserer westlichen Werte. Wohin soll das führen? Wie konnte es dazu kommen? In der Masse der deutschen Presse ist die Botschaft ganz klar: Putin ist Schuld.
Horst Teltschik, der langjährige außenpolitische Berater von Helmut Kohl, ist da anderer Meinung. Er schreibt dazu in seinem Buch »Russisches Roulette« von 2019: »Die USA, die NATO und der Westen insgesamt haben mehr Grund zur Selbstkritik, als es viele heute wahrhaben wollen. Der Zerfall Jugoslawiens, das Eingreifen der NATO, die Bombardierung Bagdads, die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo, die rasche Ostererweiterung der NATO, die Europäische Nachbarschaftspolitik, die «Farbenrevolution» in Georgien (2003), der Ukraine (2004) und Kirgistan (2005) haben die außen- und sicherheitspolitische Neuorientierung Russlands nach 1990 erhebliche belastet, zunehmend erschwert und zu jähen Wendungen veranlasst. Die amerikanischen Interventionen in Afghanistan und im Irak sowie das westliche Eingreifen in Libyen mit den erzwungenen Regimewechseln, offiziell begründet als Kampf gegen den internationalen Terrorismus oder humanitäre Intervention, haben die anfängliche gewollte Westorientierung Moskaus harte Belastungen und großen Schwankungen unterworfen. Denselben Effekt hatten die amerikanische Kündigung des ABM-Vertrags und die Pläne für ein Raketenabwehrsystem in Polen, zeitweise Tschechien und später für Rumänien sowie die NATO-Beitrittsperspektive für die Ukraine und Georgien. Das konstruktive Mitwirken Russlands beim Zustandekommen des Nuklearabkommens mit dem Iran oder bei der Vernichtung der Syrischen Giftgasbestände wurde demgegenüber mehr oder als selbstverständlich registriert. Die erzählte Geschichte des Weges in die Konfrontation weist jedoch in eine andere Richtung. Sie zeigt eine Spirale des gegenseiteigen Misstrauens, wobei Moskau immer wieder auch Signale seiner grundsätzlichen Kooperationsbereitschaft aussandte und der Westen es insbesondere in der Schlüsselzeit 2007/08 an Kompromissbereitschaft fehlen ließ.«
Die Verunglimpfung Russlands und seiner Politik ist ungerecht. Die Tausende Russland-Reisenden des Forum haben ein ganz anderes Bild von Russland und seinen Menschen gewonnen: freundlich, freundschaftlich, hilfsbereit, herzlich, oftmals tief christlich religiös. Und sicherlich sehr Werte-orientiert.
Bis heute teilt die deutsche Öffentlichkeit nicht dieses russische Feindbild der NATO: Laut einer Umfrage im Auftrag der Stiftung Alliance of Democracies, die vom früheren NATO-Generalsekretär und Ex-Premierminister Dänemarks, Anders Fogh Rasmussen, gegründet wurde, veröffentlicht im »Spiegel« vom 5. Mai, fühlen sich nur 29 Prozent der Deutschen von der Politik Russlands bedroht, 33 Prozent von China und 36 Prouent von den USA. Russlands Vorleistungen aus den 90er-Jahren sind noch nicht vergessen in Deutschland.
Nur mit Russland kann es Stabilität und Frieden in Europa und der Welt geben.
Die Erinnerung dieses Tages des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion muss Verpflichtung für die Zukunft sein.
Autor: Nikolaos Damianidis