Pflegebedürftige Personen finden immer schwieriger einen ambulanten Pflegedienst, um zu Hause versorgt werden zu können. Gemäß einer Abfrage der Kommission Pflegeversicherung der Freien Wohlfahrtspflege NRW aus dem Jahr 2018 musste im Durchschnitt jeder Pflegedienst in NRW 10,5 Pflegen ablehnen und die Tendenz ist steigend. Damit ambulante Pflegedienste mehr Pflegekräfte für den ambulanten Sektor gewinnen können, müsste die Attraktivität für die Pflegekräfte gesteigert werden. Ein möglicher Ansatzpunkt wäre, die Abrechnungsart für Pflegeleistungen zu ändern. Derzeit erfolgt die Abrechnung nach den vereinbarten und dokumentierten Leistungskomplexen – Mobilisation etwa ist einer, die Ganzwaschung ein anderer. Von der benötigten und genutzten Zeit hängt jedoch oftmals ab, wie gut die zu Pflegenden versorgt werden können und welche Umsätze der Pflegedienst generiert. Damit hat sich Elena Schroer in ihrer Masterarbeit am Fachbereich Gesundheit der FH Münster beschäftigt und die Abrechnung in der ambulanten Pflege nach Leistungskomplexen der Abrechnung nach Zeit gegenüberstellt. »Es ist nicht erst seit Corona so, dass der Personalmangel in der ambulanten Pflege immer größer wird. Die Folge ist, dass immer mehr Pflegebedürftige in anderen Versorgungsstrukturen, wie Alten- und Pflegeheimen versorgt werden, müssen – was natürlich viel teurer für die Pflegebedürftigen und das soziale Sicherungssystem ist«, sagt die gelernte Kauffrau im Gesundheitswesen und Absolventin des Studiengangs Management in Pflege- und Gesundheitseinrichtungen. »Ich habe mich gefragt, wie das Dilemma zu lösen ist. Weniger Zeitdruck könnte ein Teil der Lösung sein, der durch das Abrechnungssystem nach Leistungskomplexen entsteht. Eine Alternative könnte also auf den ersten Blick die Abrechnung nach Stundensätzen sein, aber auch dies ist problematisch«, erklärt die 31-Jährige. In ihrer Abschlussarbeit hat Schroer, die bei der Gesellschaft für Pflegesatzverhandlungen caritativer Einrichtungen und Dienste in der Diözese Münster als Entgeltreferentin arbeitet und Vergütungsvereinbarungen für die Pflegedienste mit den Kostenträgern verhandelt, die Vorteile und Nachteile der beiden Abrechnungsvarianten diskutiert und daraus Handlungsempfehlungen abgeleitet. Das Fazit: Die Zeitvergütung könnte eine alternative Abrechnungsmöglichkeit in der ambulanten Pflege sein, allerdings aus ihrer Sicht derzeit vorrangig für Leistungen in der Betreuung und hauswirtschaftlichen Versorgung. Problematisch bei einer reinen Zeitvergütung für Pflegeleistungen ist die parallele Erbringung von Leistungen der häuslichen Krankenpflege, wie zum Beispiel die Gabe von Medikamenten oder die Versorgung von Wunden. Denn diese Leistungen werden von den Krankenkassen bezahlt und müssten somit zeitlich von der pflegerischen Versorgung abgegrenzt werden. Die Pflegeleistungen werden hingegen entweder über die Pflegekassen oder den Pflegebedürftigen selbst finanziert. Jedoch ist die Trennung dieser beiden Leistungsbereiche schwierig. Einerseits gehen die pflegerischen Leistungen und die Leistungen der häuslichen Krankenpflege ineinander über, andererseits fehlen zum Teil noch die technischen Möglichkeiten, um eine saubere Abgrenzung dieser Leistungen vorzunehmen. Ein weiteres Problem besteht derzeit in der Verhandlung des Stundensatzes mit den Kostenträgern. Denn hier müsste eine Anerkennung von sämtlichen Kostenbestandteilen erfolgen, also beispielsweise auch von Vorbereitungszeiten für die Einsätze, für Dienstbesprechungen sowie Abwesenheitszeiten für Krankheit, Urlaub und Fortbildung. Da die Kalkulationen der Vergütung auf Ist-Kosten basieren und somit kein Gewinn hinterlegt ist, dürften die Kostenträger in der Vergütungsverhandlung keine Kostenansätze kürzen, damit der Pflegedienst seine Leistungen kostendeckend erbringen kann. Aufgrund dieser Schwierigkeiten plädiert Schroer dafür, dass die pflegerischen Leistungskomplexe beibehalten und zeitmäßig höher bewertet werden. So würde mehr Raum für die zwischenmenschlichen Aspekte mit dem Pflegebedürftigen bestehen, und der mögliche Stress könnte aus der Versorgungssituation herausgenommen werden. Außerdem wünscht sich Schroer, die Aufnahme von Leistungskomplexen für bestimmte Situationen, die durch einen pauschalierten Leistungskomplex nicht abgedeckt werden. Beispielhaft nennt sie hier Leistungen zur Wiedererlangung der Selbstständigkeit nach einem Krankenhausaufenthalt und Leistungen in bestimmten Krisensituationen. Dadurch würde auch die pflegefachliche Kompetenz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wieder mehr im Fokus stehen. Sofern die Schwierigkeiten im Rahmen der Zeitvergütung gelöst werden, würde Schroer für die Abrechnung von Zuschlägen für bestimmte Zeiten plädieren. Denn bei einem Zuschlag etwa an Sonn- und Feiertagen oder auch nachts könnte so ein Steuerungseffekt erzielt werden, der die Einsätze zu unattraktiveren Zeiten reduzieren würde. Ginge es nach Schroer, so würde die Leistungszeit des Einsatzes im Rahmen der Zeitvergütung bereits beim Betreten der Wohnung beginnen und beim Verlassen enden. Die Ausgestaltung der Einsätze und die Pflege- und Betreuungsziele müsste für jeden Klienten vor dem ersten Besuch vereinbart werden und sich in einem entsprechenden Kostenvoranschlag widerspiegeln – mit der Option, flexibel auf die aktuelle Lage des Klienten eingehen zu können. Denn so könnte das starre Leistungssystem gelockert werden. Schroer ist sich sicher, dass für ihre Ideen der Diskussionsbedarf mit den Kostenträgern hoch wäre und etliche Fragen noch geklärt werden müssten. Ökonomische Auswirkungen, Ausfallzeiten für Urlaub, Krankheit und Fortbildung könnten kritische Punkte sein. „Ich erwarte keine größere Qualitätssteigerung in der Leistungserbringung, wenn nach Zeit abgerechnet wird. Denn auch jetzt schon gibt es einen gewissen Spielraum, auf individuelle Bedürfnisse eingehen zu können, gerade dann, wenn eine auskömmliche Vergütung für den Pflegedienst verhandelt wurde und diese für die Versorgung der Pflegebedürftigen genutzt wird. Dies besagen auch ältere Studien, die für frühere Gesetzesänderungen durchgeführt wurden. Unabhängig von der Abrechnungsart will Schroer eines auf keinen Fall: eine Pflege nach der Stoppuhr. Es ginge ihr darum, die Klienten bedarfsgerecht und qualitativ hochwertig versorgen zu können und den Beruf von ambulanten Pflegekräften attraktiver zu machen. Zudem ist es ihr wichtig, dass sich die Pflegebedürftigen gute Pflege leisten können. »Am schönsten für mich ist es, wenn ich in genau diesem Sinne gemeinsam mit den Trägern eine gute Vergütung gegenüber den Kostenträgern verhandelt habe.« Zum Thema: Gerade einmal ein Prozent aller Absolventinnen und Absolventen eines Jahrgangs erhält ihn: den Hochschulpreis. Jedes Jahr kürt das Präsidium gemeinsam mit der Gesellschaft der Freunde der FH Münster (GDF) auf Vorschlag der Fachbereiche die besten Abschlussarbeiten. Zu den Preisträgerinnen und Preisträgern des Hochschulpreises 2021 für die besten Arbeiten aus dem Jahr 2020 gehört Elena Schroer vom Fachbereich Gesundheit, die die »Zeitvergütung als eine alternative Abrechnungsmöglichkeit zur Vergütung über Leistungskomplexe in der ambulanten Pflege für den SGB XI-Bereich in Nordrhein-Westfalen« untersucht hat. Erstgutachterin der Masterarbeit war Prof. Dr. Sylvia Schulze zur Heide von der FH Münster, Zweitgutachter Diplom-Kaufmann Eric Lanzrath, Geschäftsführer der Gesellschaft für Pflegesatzverhandlungen caritativer Einrichtungen und Dienste in der Diözese Münster. Eine vollständige Ãœbersicht aller gewürdigten Absolventinnen und Absolventen ist im Jahresbericht 2020 ab Seite 54 abrufbar: fhms.eu/jahresbericht-20.